Der Weg des Gegenstandes, um den es hier geht, hin zu einem neuen Leben als Erinnerungsstück, beginnt um 1900. In dieser Zeit schmiegt sich ein neu gebautes, wie eine herrschaftliche Villa gestaltetes Hotel in die sanften Hügel hoch über einem kleinen Dörfchen in Bayern ein. Die Sonne lässt die gelb gestrichene Fassade des Hotels erstrahlen, und die Hotelgäste empfinden es als eine besondere Ehre, wenn sie die aufwändig verzierten Räume der Hausherrin im privaten Trakt des Hauses bestaunen dürfen.
Jahrzehnte später schwärmt Elsa, die älteste Tochter der Besitzer und inzwischen meine Großmutter, immer noch von den wunderbar gestalteten und lichtdurchfluteten Räumen der Mutter vor. Als Kind hat im Hotel zusammen mit ihren drei Geschwistern eine wunderbare, unbeschwerte Kindheit erlebt. 1914 mit Beginn des Ersten Weltkrieges jedoch endet diese Idylle abrupt. Hotelbesitzer Hugo wird als Soldat in Mazedonien stationiert und kehrt von dort 1918 als gebrochener Mann zurück. Nur ein Jahr später müssen er, seine Frau Luise und die Kinder das Hotel mit einem Not-Verkauf gehen lassen: Die langjährigen Gäste bleiben aus, denn die Männer sind im Krieg gefallen und haben Witwen und Kinder mit einer ungewissen Zukunft hinterlassen.
Fast 100 Jahre später frage ich mich eines Tages beim Betrachten alter Familienfotos, was eigentlich aus dem Elternhaus meiner Großmutter geworden ist und recherchiere im Internet. Das Haus existiert tatsächlich noch und wird zu dieser Zeit von Mitgliedern eines evangelischen Konvents bewohnt. Die Schwestern dort laden mich ein, ihr Haus kennenzulernen.
Die Villa zu sehen, berührt mich sehr, sieht sie doch fast noch genauso aus wie auf den Fotos im Album meiner Großmutter oder auf den alten Postkarten, die es von dem einstigen Hotel im Internet zu kaufen gibt. Beim Eintreten fasziniert mich gleich im Flur die große Treppe mit ihrem massiven, dunkelbraun lackierten Antrittspfosten und dem wunderbaren, in beige gehaltenem Jugendstil-Geländer. Ich lege die Hand auf die große Kugel, die den Antrittspfosten krönt, und stelle mir vor, wie meine Vorfahren tagein, tagaus dasselbe getan haben. Aber von den von meiner Großmutter mit leuchtenden Augen geschilderten Räumen ist nichts zu sehen, und auch die Schwestern wissen nichts darüber.
Fünf Jahre später erfahre ich, das die Schwestern das Haus inzwischen an eine Gruppe Menschen verkauft hat, die es in ein Wohnprojekt für drei Generationen umbauen werden. Erneut fahre ich dorthin und gerate mitten in eine Großbaustelle – das ganze Haus ist ein einziger Rohbau. Wieder lege ich meine Hand auf die große Kugel, die nun über und über mit Staub bedeckt ist, und steige die Treppe empor. Oben angekommen, betrete ich eines der Zimmer – und mir kommen vor Freude die Tränen: Die neuen Besitzer haben die Wände von sämtlichen Tapeten und Anstrichen befreit und den alten Originalputz freigelegt. An allen vier Wänden und der gesamten Decke leuchten mir nun die Reste der alten Fresken entgegen, die meine Großmutter als Kind so bewundert hat. Und auch in den weiteren Räumen nebenan tauche ich ein in eine vergangene Zeit: Überall Fresken, zum Teil bis in kleinste Details phantastisch erhalten.
Ich verbringe gefühlte Stunden in diesen Räumen und kann mich kaum sattsehen. Vergangene Pracht, jahrzehntelang unter Tapeten verborgen und durch später eingezogene Leitungen teilweise zerstört – aber selbst jetzt noch immer atemberaubend schön. Vor meinem inneren Auge sehe ich dort Luise, meine Urgroßmutter, wie sie in ihrem vom warmen Morgenlicht durchfluteten Zimmer die wilde Lockenpracht ihrer ältesten Tochter in zwei Zöpfen zu bändigen versucht, während diese die in allen Farben erstrahlenden Fresken bestaunt.
Was passiert jetzt mit diesen Kunstwerken? Werden die neuen Eigentümer sie erhalten? Oder überkleben sie sie erneut mit Tapete, reißen vielleicht sogar die Wände heraus, weil sie mehr Platz brauchen?
Statt nach einer Antwort zu suchen, die ich vielleicht gar nicht hören will, mache ich Unmengen von Fotos, um diesen Anblick für mich zu bewahren, egal, was mit den Fresken demnächst geschehen wird.
Irgendwann stehe ich wieder im Erdgeschoß vor der breiten Treppe und dem massiven, dunklen Pfosten. Das wird alles bald ausgebaut, höre ich von den Bauherren, die schon seit längerem versuchen, das wunderschöne Geländer zu verkaufen oder auch zu verschenken. Aber: Niemand will es haben. „Könnte ich die Kugel von dem Pfosten bekommen, wenn den sonst keiner haben will?“ höre ich mich fragen. Innerlich schüttle ich im selben Moment den Kopf über mich: Was soll das denn? Was will ich damit – und vor allem: wo soll dieses Ungetiüm denn überhaupt hin?
Die neuen Haus-Besitzer merken sich meinen Wunsch und stellen beim Treppenausbau den gesamten Antrittspfosten beiseite, so wie er ist. Wieder Monate später will ich die Kugel abholen. Aber auf der Immer-noch-Großbaustelle findet sich absolut keine passende Säge, um diesen Teil des Pfostens abzutrennen. Ich habe keine Wahl, will ich die Kugel trotzdem haben: Zusammen mit zwei kräftigen Frauen wuchte ich kurzentschlossen (und innerlich erneut kopfschüttelnd über mich) den ganzen Pfosten samt verbliebenen Decken- und Metallresten am Sockel in den Kofferraum.
Zurück zu Hause erzähle ich dem Schreiner, der auch alte Möbel restauriert, dass ich neugierig bin auf die erste, direkt auf dem Holz aufgetragene Lackschicht, weil sie mit großer Sicherheit von meinen Urgroßeltern und meiner Großmutter unzählige Male berührt worden ist. Ich bin erleichtert, als er zustimmend nickt und sich an die Arbeit macht, statt mich für verrückt zu erklären. An einer kleinen Stelle kommt unter drei dicken Farbschichten helles, elfenbeinartiges Beige zum Vorschein, das perfekt zum (leider inzwischen verschrotteten) Geländer passt. Aber wie jetzt weiter?
Ich habe schlicht keinen Platz, um mir einen halben Baumstamm ins Zimmer zu stellen, egal, wie geschichtsträchtig er für mich auch immer sein mag. Aber der Schreiner hat die entscheidende Idee, mit der das sperrige Ding zu einem viel einfacher zu transportierenden Wandschmuck wird: Von oben nach unten sägt er den Antrittspfosten der Länge nach in zwei Teile. Auf der von der Treppengeländer-Verankerung nicht beschädigten ‚Vorderseite‘ legt er anschließend großflächig alle Farbschichten aus den letzten 140 Jahren frei. Der Pfosten leuchtet nun in unregelmäßig zutage tretendem Braun, Grün, Blau und Beige – die große Kugel aber überraschenderweise vor allem in Menninge-Rot, der für die damalige Zeit typischen Schutzanstrich-Farbe, die früher fast überall auf Treppen und Stufen zu finden war.
Seit ein paar Tagen hängt nun dieses leicht verrückte und etwas verfrühte ‚Weihnachtsgeschenk in eigener Sache‘ bei mir zu Hause an der Wand – direkt neben der Treppe, die ins Obergeschoß führt. Seitdem lege ich wie von selbst bei jedem Gang nach oben für einen kurzen Moment meine Hand auf die große Kugel. Mit einem kleinen Lächeln fühle ich mich dabei für einen winzigen Augenblick meinen Urgroßeltern sehr nahe, die ich nie kennengelernt habe. Und in einem dieser winzigen Augenblicke hatte ich eine Idee, was ich aus den Fotos von den einzigartigen Fresken machen könnte …
Fünf Tipps für den Umgang mit eigentlich ‚unmöglichen‘ Dingen, die Sie aber einfach nicht gehen lassen wollen:
- Gönnen Sie sich zwischen den vielen schwierigen und oft vernunftgeleiteten Entscheidungen über die Dinge der Eltern ganz bewusst auch mal eine spontane und verrückte Bauch-Entscheidung.
- Wenn Sie dann zunächst ratlos wegen Transport und weiterer Verwendung sein sollten: Denken Sie einfach viele Male am Tag daran, dass (nicht: ob!) Sie eine Lösung für dieses Problem finden werden. Erzählen Sie dazu allen möglichen Leuten von Ihrer verrückten Entscheidung und fragen Sie Ihr Gegenüber nach Tipps für den Transport und Ideen für die weitere Verwendung. Sie werden merken, dass Menschen häufig gute Einfälle haben, wenn sie spüren, dass jemand mit Leidenschaft und Herzblut an einer Sache hängt.
- Widmen Sie sich dem Stück erst wieder, wenn Sie das Elternhaus aufgelöst haben. Dann können Sie wirklich klar entscheiden, was Sie damit tun und wie Sie es als persönliches Erinnerungsstück gestalten möchten.
- Scheuen Sie sich nicht, das gute Stück nach Ihrem Gutdünken zu verändern, sei es, was sein Aussehen oder auch seine Funktion angeht. Sie wollen sich ja über lange Zeit daran erfreuen und nicht bei jedem Blick darauf ein kritisches „Schon okay, aber …“ empfinden.
- Erwarten Sie nicht, dass alle Menschen in Ihrer Umgebung Ihre Entscheidung für den Gegenstand oder Ihren Umgang damit gutheißen. Vielleicht schütteln einige einfach nur den Kopf über Sie. Aber: Es ist Ihr Erinnerungsstück. Seien Sie mutig und integrieren Sie es auf für Sie stimmige Art und Weise in Ihr Leben.
Neueste Kommentare